Im Gotthard-Jahr verwandeln sich die Räume des Niederalteicher Gymnasiums in Konzertsäle, in Jazzlokale und Musiksalons. Der Salon als Ort der bürgerlichen Kunstausübung gewinnt im 19. Jahrhundert große Bedeutung. Das Klavier steht dort im Mittelpunkt und entwickelt sich mit den Kompositionen Schuberts, Schumanns, Mendelssohn-Bartholdys und Chopins zum Renner in der städtischen Kultur. Dazu gesellt sich das Kunstlied als Gattung. Es kommt mit Schubert richtig in Schwung und gilt als Kristallisationspunkt der bürgerlichen Innigkeit, des romantischen Empfindens.
Die Aula des Gymnasiums wandelte sich am Freitagabend in einen solchen Salon. Ein junges Künstlerteam gab sich dort die Ehre, die Pianistin Anna Gebhardt aus Straubing und der Bariton Jonas Müller aus Osterhofen. Jonas Müller machte 2017 in Niederalteich Abitur.
Dass die beiden bereits eine beachtliche Laufbahn an Konzerten, Wettbewerben und Meisterklassen hinter sich haben und bei den Meistern des Fachs ausgebildet werden, spiegelte ihr Auftritt in Niederalteich wider. Eindrucksvoll war er besonders in der zupackenden Frische und Spontaneität, in der Ausdrucksstärke lyrischer Passagen, in der Prägnanz der musikalischen Erzählung. Dabei steht beiden die umfassende Palette der Stimme und des Instruments zur Verfügung, die sie in einer Sicherheit beherrschen, die man als besonders wahrnimmt. Dazu sind sie ein dermaßen eingespieltes Team, dass das Programm vom ersten Stück an wie aus einem Guss erscheint.
Den Auftakt machte ein Reigen von Schubertliedern. Immer wieder fasziniert, was der mit 31 Jahren verstorbene Komponist über das Leben wusste, wie er es ausloten und in musikalische Form packen konnte. Exemplarisch sei Totengräbers Heimweh genannt, in dem anfänglich der Schrecken des Todes dominiert, dann aber sein Erlösungspotenzial betont wird. Für Jonas Müller ist das eine kompositorische Anlage, in der er stimmlich auftrumpfen kann, um dann mit halber Stimme in einen seligen Tonfall zurückzugehen, bei dem man die Ohren spitzt, bei dem klar ist, dass es um letzte Dinge geht. Und auf beiden Ebenen, in der virilen Strahlkraft seines wohltönenden Baritons und im gedämpften Ton, ist seine Stimme intensiv, zieht in den Bann, hält bei der Stange. Man hört ihm fasziniert zu, weil er die Geschichte, die er erzählt, in allen Ausdrucksmitteln beherrscht. Und dabei klingt nichts verstaubt oder miefig nach halbseidenem Sentiment. Es klingt wie gerade erfunden, wie gerade empfunden, und belegt, dass das Kunstlied keine Randgattung sein muss, wenn man es so in die aktuelle Zeit zu holen und zu interpretieren versteht. Was Anna Gebhardt am Klavier dazu zaubert, ist eine Extraklasse an rhythmischer Präzision und vielfarbigem Tonsatz.
Nach der Pause stand der Liederzyklus op.10 Letzte Blätter von Richard Strauss auf dem Programm. Das erste Lied Zueignung hat im Kunstliedrepertoire eine hohe Popularität erlangt. Der komplexe Klaviersatz verzahnt sich in den Liedern mit einer deklamatorisch differenziert angelegten Singstimme. Auch im dichten spätromantischen Satz bleibt Müller einer ausgewogenen Stimmkultur verpflichtet. Nie klingt er forciert, nie drückt oder schiebt ein Ton. Die handwerkliche Basis ist bei diesem jungen Sänger schon so solide, dass er keine Kraftmeierei betreiben muss.
Ebenso authentisch gelingen ihm deshalb auch die vertrackten Brettllieder von Arnold Schönberg. Mancher im Publikum meinte schon in Deckung gehen zu müssen. Erwartet man doch von Schönberg atonale Kompositionen, die auch nach mehr als 100 Jahren als modern und gewöhnungsbedürftig gelten. Vor der Atonalität komponierte Schönberg aber im Stil der Spätromantik. Die Brettllieder sind kabarettistisch gestaltete Chansons in diesem Stil, die er 1901 für die Berliner Bühne Überbrettl schrieb.
Ausgehend von der tiefernsten Liederwelt Schuberts spannte sich so ein Bogen zum Ende des Jahrhunderts, in dem die Ideenwelt der bürgerlichen Innigkeit, der Romantik, zunehmend Risse bekam und man sich darüber ironisch erhob. Die zum Teil hocherotisch aufgeladenen Lieder gaben Müller die Gelegenheit, sich von der komödiantischen, schauspielerischen Seite zu zeigen, die er ebenso leicht beherrscht, wie den Stil davor. Anna Gebhardt setzte den virtuosen Klavierpart in staunenswerter Sicherheit um.
Ohne Zweifel wird man von Jonas Müller und Anna Gebhardt noch zu hören bekommen. Soll das Konzept, das „alte Kulturgut“ weiterhin durch die zu Zeit zu tragen, überhaupt funktionieren, ohne dass es museal wird, hängt das letztlich von Künstlerinnen und Künstlern von diesem Format ab, ob es klappt. Es ist die Mischung aus handwerklicher Meisterschaft und unverkrampftem Bekenntnis zur Sache, die Persönlichkeiten wie Müller und Gebhardt zu den besten Botschaftern einer Kunst macht, die immer noch etwas zu sagen und mitzuteilen hat. Weil sie über Dinge spricht, die zeitlos sind.
Bernhard Falk / 16.10.23