Zur vorletzten Veranstaltung im Gotthard-Jahr lud das Gymnasium Niederalteich am Freitagabend in den Gotthardsaal ein. Mit Dr. Stephan Deutinger konnte dafür einer der kundigsten Historiker in Bayerischer Geschichte gewonnen werden.
Ausgehend vom Gründungsjahr des Seminars 1723 startete Deutinger eine Zeitreise von Niederalteich aus in die Welt. Für Historiker, meinte er, stelle sich das Jahr 1723 aus der Vogelperspektive als ein wenig ertragreiches Jahr dar. Keine Schlachten, keine weltverändernden Ereignisse. Dann legte er Niederalteich gleichsam unter das historische Mikroskop und spannte von dort aus Fäden in das Jahrhundert hinein. Daraus ergab sich ein überraschend dichtes Beziehungsnetz und ein faszinierendes Kulturgemälde der Zeit, das scheinbar nah und greifbar, im Nachvollzug aber ungemein fern erscheint. Im 18. Jahrhundert, führte Deutinger aus, sei die Vorstellung der Erdzeit noch so plastisch-theologisch geprägt gewesen, dass Theoretiker die Entstehung der Erde auf ca. 3000 vor Christus datieren konnten. Angesichts der kurzen Erdenzeit erscheint dann das 1000-jährige Jubiläum, das Niederalteich 1731 beging, unheimlich bedeutend, umfasst aus dieser Perspektive das Kloster doch immerhin mehr als ein Fünftel des Erdalters. Immer wieder wies Deutinger auf die wichtigen Unterschiede in der Wahrnehmung von Zeit und Weltvorstellung hin, um die Differenz zwischen heutiger und einstiger Auffassung deutlich zu machen. Die Überschriften Hochzeit, Seuche, Komet, Heilige Leiber und Wettbewerb dienten dabei als für Niederalteich relevante Momente, die zu überregionalen Ereignissen in Bezug gesetzt wurden. Allen voran können als solche die Besatzungen im Zug der Erbfolgekriege des 18. Jahrhunderts gelten. Die Heere durchzogen das Land und quartierten sich in den Klöstern ein, in der Region vor allem in Niederalteich und Altenmarkt. Das Prämonstratenserkloster Altenmarkt ging schließlich an der Kriegsbelastung zugrunde.
Die klösterliche Forschung, die in Niederalteich, wie in anderen Abteien, von der Wissenschaftsbegeisterung der Aufklärung geprägt war, fand unter dem Zeichen des „ut in omnibus glorificetur Deus“ statt, „dass in allem Gott verherrlicht werde“. Mit der Arbeit unter diesem Wahlspruch war es nach der Säkularisation 1803 vorbei. Diese bahnte sich schon ab den 1720er Jahren in einer zunehmend ablehnenden Haltung der Bayerischen Kurfürsten und der Bevölkerung an, denen die Kapitalhäufung in der Hand des Klerus, in der sogenannten „toten Hand“, verdächtig war.
Im Kapitel „Wettbewerb“ ging Deutinger abschließend auf die Funktion des Seminars ein. Eine Schule für die ländliche Region sei sie damals nicht gewesen, meinte er. Die Motivation zur Seminargründung lag ihm zufolge viel mehr im Wettbewerb zwischen den Klöstern, die in der geistlichen Prachtentfaltung konkurrierten. Knaben als Sopransänger in den Abteichören waren dabei eine wichtige Größe und wurden dementsprechend gefördert. Das Seminar könnte also als Anziehungspunkt interpretiert werden, um begabte Sänger nach Niederalteich zu locken. Niederalteich hatte eine hohen Repräsentationsanspruch in Künsten und Wissenschaften, verstand es sich doch als bedeutendstes Kloster in Bayern. Um diesen Rang focht es einen Kampf mit der Abtei Tegernsee aus, der zuletzt vom Kurfürsten selbst zugunsten von Tegernsee entschieden wurde.
Auch heute ist Niederalteich ein Anziehungspunkt für musikalisch aktive Jugendliche, allerdings nicht mehr in erster Linie unter dem Aspekt der Außenwirkung. Vielmehr steht im Zug einer modernen Pädagogik der individuelle Entfaltungsgedanke im Vordergrund. Kinder sollen sich entsprechend ihrer Schwerpunkte entwickeln und zu Persönlichkeiten heranreifen. In der Verbindung des musischen Schwerpunkts mit dem Erziehungsmodell der Moderne geben sich am St.-Gotthard-Gymnasium Damals und Heute die Hand.
Bernhard Falk / 27.11.23